017.JPG 

Advaita-Vedânta

monistische (=nicht-dualistische) Veden-Vollendung (bzw. Upanishad-Interpretation)

Brahma-Sûtrâ-Shânkara-Bhâshyam

= Shârîraka-mîmâmsâ des Bâdarâyana mit Shânkaras Kommentar –

(Übersetzung: Paul Deussen, Berlin 1887)

 

Erster Adhyâya, erster Pâda,

 

Erstes Adhikaranam: Voraussetzungen

 

Shankaras Einleitung:

Erörterung der scheinobjektiven Selbstverkennung des „Ich“

(adhyâsa-vicârah )

 (sanskrit / deutsch)

 

 

yushmad-asmat-pratyaya-gocarayor-

vishaya-vishayinos-
tamah -prakâshavad-viruddha-svabhâvayor-

Objekt (vishaya) und Subjekt (vishayin),

wie sie als ihren Bereich die Vorstellung des „Du“ [Nicht-Ich] und des „Ich“ haben,

sind so entgegengesetzter Natur wie Finsternis und Licht.

itaretara-bhâvânupapattau siddhâyâm

tad-dharmânâm-api sutarâmitaretara-bhâvânupapattih,
 

Steht es nun fest, daß das Sein des einen in dem andern nicht zutrifft,

so folgt um so mehr, daß auch die Qualitäten (dharma) des einen bei dem andern nicht statthaben.
 
ityato
’smat-pratyaya-gocare vishayini cid-âtmake

yushmat-pratyaya-gocarasya vishayasya tad-dharmânâm

câdhyâsah ,

tad-viparyayena

vishayinas-tad-dharmânâm ca vishaye ‚dhyâso

mithyeti bhavatu yuktam;
Hieraus ergiebt sich,

daß die Übertragung (adhyâsa)

des als seinen Bereich die Vorstellung des „Du“ habenden Objektes und seiner Qualitäten

auf das als seinen Bereich die Vorstellung des „Ich“ habende, rein geistige Subjekt,

und umgekehrt,

daß die Übertragung des Subjektes und seiner Qualitäten auf das Objekt

folgerichtigerweise falsch ist. 
tâpy-

anyonyasminn-anyonyâtmakatâm-anyonya-dharmâmsh-
câdhyasyetaretarâvivekenâtyanta-viviktayor-dharmar-dharminor-

mithyâ-jñâna-nimittah
styâ-nrtte mithunî-krtya

aham-idam mamedam iti

naisargiko ‚yam lokavyavahârah .
 
Und doch ist den Menschen dieses,

auf falscher Erkenntnis beruhende (mithyâ-jñâna-nimitta),
Wahres und Unwahres [d.h. Subjektives und Objektives] paarende Verfahren

angeboren (naisargika),

daß sie die Wesenheit und die Qualitäten des einen auf das andere übertragen, Objekt und Subjekt,
obgleich sie absolut verschieden (atyanta-vivikta) sind, nicht von einander unterscheiden

und so z. B. sagen „das bin ich“, „das ist mein“.
âha – ko ‚yam-adhyâso nâmeti?
 
‚Aber was ist unter dieser „Übertragung“ zu verstehen?‘ –
 
ucyate –

smrti-rûpah paratra pûrvadrshtâva-bhâsah .
Wir antworten:

sie ist das auf Erinnerung beruhende Erscheinen eines früher Gesehenen an einem anderen. –
tam kecit –

anyatrânya-

dharmâdhyâsa  – iti vadanti
 
manche hingegen
definieren sie als die Übertragung der Qualitäten,

die der einen Sache zukommen, auf eine andere; –
kecit –
yatra yad-adhyâsas-tad-vivekâgraha-nibandhano

bhrama iti
einige wiederum

als einen Irrtum, der dadurch bedingt sei,

daß man den Unterschied der Sache nicht auffasse, auf welche die Übertragung geschehe; – 


 
anye tu –

yatra yad-adhyâsas-tasyaiva viparita-dharma-tv-
akalpa-nâmâ-cakshate iti.
wieder andere erklären sie

als die Annahme von Qualitäten an dem Gegenstande der Übertragung,
welche seinem Wesen entgegengesetzt seien. –

sarvathâpi tv-anyasyânya-dharmâvabhâsatâm

na vyabhicarati.
 
Wie dem auch sei, darin ist Ubereinstimmung,

daß sie das Erscheinen der Qualität der einen Sache an einer anderen ist.
tathâ ca loke ’nubhavah . –

shuktikâ hi rajatavadavamâsate,
ekash-candrah sadvitîyavad iti.
Und so zeigt sie sich auch in der Wahrnehmung des gemeinen Lebens,

wenn z.B. die Perlmutter als Silber,
oder der Mond, wiewohl er einer ist, als zwei erscheint.

katham punah

pratyagâtmanyavishaye ‚dhyâso vishayatad-dharmânâm?
‚Aber wie ist es möglich,

auf das innere Selbst, da es doch nicht Objekt ist, die Qualitäten von Objekten zu übertragen?
sarvo hi puro ‚vasthite vishaye

vishayântara-madhyasyati,
Denn ein jeder überträgt doch nur auf ein vor ihm stehendes Objekt

ein anderes Objekt;
yushmat-

pratyayâpetasya ca pratyagâmano ‚vishayatvam bravîshi?
und du selbst sagtest [oben],

daß das der Vorstellung des „Du“ entbehrende innere Selbst kein Objekt sei (avishayatvam)?‘
ucyate –

tâvad-ayam-ekântenâvipayah ,
asmat-pratyayavishayatvât,

aparokshatvân-ca

pratyagâtma-prasiddheh.
Wir antworten:

dasselbe ist doch nicht in jedem Sinne Nicht-Objekt;
denn es ist das Objekt der Vorstellung des Ich;
und nur darum nimmt man ja auch allgemein ein inneres Selbst an,

weil es der Wahrnehmung nicht unzugänglich ist.
na câyam-asti niyamah . –

puro ‚visthita eva vishaye vishayântara-madhyasitavyam-iti;
apratyakshe ‚pi hy-âkâshe

vâlâstalamalinatâd-vadhyasyanti.
Auch besteht eben keine Notwendigkeit,

daß man nur auf ein vor uns stehendes Objekt ein anderes Objekt übertragen könne;
indem z. B. auf den Weltraum (âkâsha), wiewohl er nicht wahrnehmbar ist,

Unerfahrene die dunkle Farbe des Grundes und dergleichen übertragen.
evam-aviruddhah

pratyagâtmany-apy-anâtmâdhyâsah
Ebenso ist es nicht ausgeschlossen,

daß man auch auf das innere Selbst überträgt, was nicht das Selbst ist.

tam-etam-evam-lakshanam-adhyâsam panditâ avidyeti manyante;

tad-vivekena ca vastutva-rûpâ-vadhâranam vidyâm-âhuh.
 

Diese so beschaffene Übertragung erklären die Philosophen für ein Nichtwissen (avidyâ)

und bezeichnen im Gegensatze dazu die genaue Bestimmung der Natur eines Dinges als das Wissen (vidyâ). 


 

tatraivam

sati yatra yad-adhyâsah ,
tat-krtena doshena gunena vâ ‚numatrenâpi sa na sambadhyate, 
 

Ist dem aber so,

dann folgt, daß der Gegenstand, auf welchen eine [derartige, falsche] Ubertragung stattfindet,
durch eine in ihr begründete Fehlerhaftigkeit oder Beschaffenheit nicht im mindesten betroffen wird.

 
tam-etam-avidyâkhyâm-âtmânâtmanor-itaretarâdhyâsam

puraskrtya sarva pramâna-prameya-vyavahârâ
laukikâ vaidikâsh-ca pravrttâh,
Diese, „Nichtwissen“ genannte, das Selbst und das Nicht-Selbst miteinander verwechselnde Übertragung

bildet nun die Voraussetzung, unter welcher alle Beschäftigung mit Beweisen oder zu Beweisendem,
und zwar auf weltlichem wie auf vedischem Gebiete, stattfindet;

sarvâni ca shâstrâni

vidhi-pratishedha-mokshaparâni.
und ebenso beruhen auf ihr alle Lehrbücher,

mögen sie nun Gebote und Verbote oder auch die Erlösung betreffen. –
katham punar-avidhâvad-vishayâni pratyakshâdîni pramânâni

shâstrâni cetti?
‚Aber wie ist es möglich, daß die Erkenntnismittel, wie Wahrnehmung u.s.w.,

und auch die Lehrbücher sich auf den Bereich des im Nichtwissen Beruhenden beziehen?‘
ucyate –

dehendriyâdishv-aham-mamâbhimâna-rahitasya

pramâtrtvânupapattau

pramâna-pravrtty-anupapatteh.
Antwort:

weil man ohne den Wahn, daß in Leib, Sinnesorganen u.s.w. das „Ich“ und das „Mein“ bestehe,

kein Erkennender sein kann,

und folglich eine Bethätigung der Erkenntnismittel nicht möglich ist.
na hîndriyâny-anupâdâya

pratyakshâdivyavahârah sambhavati.
Denn ohne die Sinnesorgane zur Hülfe zu nehmen,

findet eine Thätigkeit des Wahrnehmens u.s.w. nicht statt;
na cânadhyastâtma-bhâvena dehena

kashcid-vyâprayata.

die Verrichtung der Sinnesorgane aber wiederum

ist nicht möglich ohne einen Standort [den Leib]; 


 
na daitasmin-sarvasminn-asati

asangasyâtmanah pramâtrtvam-upapadyate.
keinerlei Aktion des Leibes aber ist möglich,

ohne daß man auf ihn das Sein des Selbstes (der Seele, âtman) übertrüge;
na ca pramâtrtvam-antarena

pramâna-pravrttir-asti.
und ohne daß dieses alles stattfindet, d.h. bei der [von der Leiblichkeit] unabhängigen Seele

ist eine Erkenntnisthätigkeit gar nicht möglich.

tasmâd-avidyâvad-

vishayâny-eva-pratyakshadîni pramânâni

shâstrâni ca.

Ohne Erkenntnistätigkeit aber geht das Erkennen nicht vor sich.

Folglich beziehen sich die Erkenntnismittel, Wahrnehmung u.s.w.

sowie die [erwähnten] Lehrbücher auf den Bereich des im Nichtwissen Beruhenden.

pashvâdibhish-câvisheshât.

yathâ hi pashvâdayah shabdâdibhih shrotrâdînâm

sambandhe sati shabdâdivijñâne pratikûle jate tato nivartante,
anukûle ca pravartante;
Ferner auch deswegen [gehört die weltliche und die vedische Erkenntnis in den Bereich des Nichtwissens],

weil [dabei] ein Unterschied von den Tieren nicht stattfindet.

Denn sowie die Tiere, wenn z.B. ein Ton ihr Ohr berührt,

falls die Erkenntnis durch diesen Ton u.s.w. für sie von unangenehmer Art ist, sich davon wegwenden,
und, falls sie angenehm ist, sich hinzuwenden, –

yathâ dandodyatakaram purusham-abhimu mukha-palamya

mâm hantum-ayam-icchatîti palâyitum-ârabhante,

harita-trna-pûrnapânim-upalabhya tam pratyabhimukhî-bhavanti;

wie sie z.B., wenn sie einen Menschen mit einem aufgehobenen Stocke in der Hand vor sich sehen,

in der Meinung: „der will mich schlagen“, zu fliehen suchen,

und wenn sie ihn mit einer Hand voll frischen Grases sehen, sich zu ihm hinwenden: –

evam purushâ api vyutpanna-cittâh

krûradrshtînâkroshatah khangodyatakarân-balavata

upalabhya tato nivartante,
taddhi parîtan-prati pravartante –

ebenso pflegen auch die Menschen, wiewohl ihre Erkenntnis entwickelter ist (vyutpanna-cittâh),

wenn sie Starke von grausigem Ansehen schreiend und mit gezückten Schwertern in den Händen wahrnehmen,

sich von ihnen abzuwenden
und zu den Entgegengesetzten sich hinzuwenden. –

atah samâna pashvârdibhih

purushânâm pramâna-prameya-vyavahârah .
Sonach ist, in Bezug auf Mittel und Gegenstände des Erkennens,

das Verfahren bei Menschen und Tieren das gleiche.
pashvadînâm ca

prasiddho ‚viveka-purah sarah pratyakshâdi-vyavahârah.
Allerdings geht bei den Tieren

die auf das Wahrnehmen u.s.w. folgende Thätigkeit ohne vorheriges Urteilen (viveka) vor sich;
tat-sâmânya-darshanâd

vyutpattimatâm-api purushânâm

pratyakshâ-divyavahâras-

tat-kâlah samâna iti nishcîyate
aber, wie man an der Gleichheit damit ersieht,

ist auch bei den [geistiger] Entwickelung teilhaften (vyutpattimatâm) Menschen

die auf das Wahrnehmen u.s.w. folgende Tätigkeit

für jene Zeit [der falschen Erkenntnis vgl. p. 449,3] entschieden die nämliche;
shâstrîye tu vyavahâre yady-api

buddhi-pûrvakârî
nâviditvâtmanah paraloka-sambandham-adikriyate,

tathâpi na

vedânta-vedyam, ashanâyâdyatîtâm,
apeta-brahma-kshatrâdibhedam,
asamsâryâtma-tattvam-adhikâre ‚pekshyate,

anupayogâd-adhikâra-

virodhâsh-ca.
und wenn hingegen zu einer Werkthätigkeit gemäß dem Schriftkanon

nur ein solcher, der vorher die [erforderliche] Einsicht (buddhi) erworben hat,
und keiner, der nicht die Verbindung der Seele mit der andern Welt erkannt hat, zugelassen wird,

so ist doch zu dieser Zulassung nicht erforderlich,

daß man die vom Vedânta zu lehrende, den Hunger und die übrigen [Begierden] hinter sich lassende,
von den Unterschieden zwischen Brahmanen, Kriegern u.s.w. Abstand nehmende Wahrheit
über die vom Samsâra (der Seelenwanderung) freie Seele [erkannt habe].

Denn diese kommt bei der Betrauung [mit dem Opferwerke] nicht zur Anwendung,

ja, sie steht mit derselben in Widerspruch.
prâk ca tathâ-bhûtâtma-vijñânât-pravartamânam

shâstram-avidyâvad-vishayatvam nâtivartate.
Und indem der Kanon der Vorschriften [nur] vor der sothanen Erkenntnis der Seele in Wirkung steht,

so erstreckt er sich nicht über den Bereich des im Nichtwissen Beruhenden hinaus.

tathâ hi – brâhmano yajeta –

ity-âdîni shâstrânyâtmani

varnâshrama-vayo

‚vasthâdi-visheshâdhyâsam-âshritya pravartante.

So z.B. wenn es heißt: „der Brahmane soll opfern“,

so sind diese und ähnliche kanonische Vorschriften nur möglich,

sofern man Kasten, âshramâs (Lebensstadien), Lebensalter

und andere unterschiedliche Zustände auf das Selbst überträgt.
adhyâso nâma

atasmins-tad-buddhir-ity-avocâma.
Diese Übertragung aber ist,

wie wir sahen, die Annahme einer Sache da, wo sie nicht ist.
tad-yathâ – putra-bhâryâ-dishu vikaleshu sakaleshu vâ

aham-eva vikalah sakalo vetti

bâhya-dharmân-âtmany-adhyasyati;
So wie daher jemand, wenn es seinem Sohne, seiner Gattin und dergleichen schlecht oder gut geht,

zu sagen pflegt, „es geht bei mir schlecht oder gut“,

und damit Qualitäten von Außendingen auf das Selbst (die Seele) überträgt:
tathâ deha-dharmân –

sthûlo ‚ham, krsho ‚ham, gauro ‚ham tishtâmi, gacchâmi, langhayâmi ceti;

tathendriyadharmân  –

mukah , kânah , klîbah , vadhirah , andho ‚ham-iti;

tathâ ’ntah karana-dharmân –

kâma-samkalpa-vicikitsâdhyavasâyâdîn.
ebenso auch überträgt er auf dasselbe Qualitäten des Leibes, wenn er denkt:

„ich bin fett, ich bin mager, ich bin weiß, ich stehe, gehe, springe;“

und ebenso Qualitäten der Sinnesorgane, wenn er denkt:

„ich bin stumm, entmannt, taub, einäugig, blind“;

und ebenso die Qualitäten des Innenorgans [antah karanam, d.h. des Manas],

Verlangen, Entscheidung, Zweifel, Entschluß u.s.w. (vgl. Brh. 1,5,3); –
evam-aham-pratyayinam-

ashesha-svapracâra-sâkshini pratyagâtman-yadhyasya,

tam ca pratyagâtmânam sarva-sâkshinam

tad-viparyayenântah karanâdish-vadhyasyati.
so also überträgt er den Vorsteher des Ich (ahampratyayin = Manas)

auf die seinen Verrichtungen lediglich als Zuschauer (sâkshin) gegenüberstehende innere Seele,

und umgekehrt die allem als Zuschauer beiwohnende innere Seele

auf das Innenorgan u.s.w. [d. h. auf die Sinnesorgane, den Leib und die Gegenstände der Außenwelt].
evam-ayam-anadir-ananto naisargiko ‚dhyâso

mithyâ-pratyaya-rûpah
kartrtva-bhoktrtva-pravartakah
sarva-loka-pratyakshah .
So steht es mit dieser anfanglosen, endlosen, angebornen Übertragung,

welche ihrem Wesen nach eine falsche Annahme ist,
alle Zustände des Thuns und des Genießens [oder Leidens] hervorbringt
und die Sinneswahrnehmung aller Menschen befaßt.

asyân-artha-hetoh prahânâya âtmaikatva-vidyâ-pratipattaye sarve

vedântâ ârabhyante.
Sie, welche die Ursache des Unheils ist, zu beseitigen und das Wissen von der Einheit der Seele zu lehren, –

das ist der Zweck aller Vedântatexte [d.h. der Upanishads].

yathâ câyam-arthah sarveshâm vedântânâm

tathâ vayam-asyâm sharîraka-mîmâmsâyâm

pradarshayishyâmah .

Und wie dieses den Gegenstand aller Vedântatexte ausmacht,

so wollen auch wir denselben in dieser Shârîraka-mîmânsâ [Erforschung der verkörperten Seele] darlegen.