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Um zu verstehen, was Tantra wirklich bedeutet, scheint es mir notwendig, kurz darauf einzugehen, was Tantra nicht bedeutet. Jeder, der sich ernsthaft mit dem Tantra auseinandersetzt, wird relativ schnell zu dem Ergebnis kommen, dass Tantra nicht gleichzusetzen ist mit dem Streben nach Sinnesgenüssen.

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Sex ist eine feine Sache, aber mit Tantra hat das im Prinzip nichts zu tun. Sicherlich, es gibt innerhalb des sogenannten ‚linkshändigen Tantrismus‘ Rituale, die den, wohlgemerkt rituellen, Geschlechtsverkehr mit einbeziehen. Aber das betrifft nur ganz bestimmte tantrische Schüler, die sich auf einer ganz bestimmten Stufe ihrer Entwicklung befinden. Dabei wird jedoch immer eine Erweiterung oder Erhöhung des Bewusstsein angestrebt, niemals der sinnliche Genuss. Obwohl die tantrischen Philosophen und Meister sehr weltzugewandt waren, lehnten die meisten solche Rituale ab. Man könnte auch sagen, sie hatten sie gar nicht nötig.

Bis zur ‚tantrischen Revolution‘, die etwa mit dem 11. Jh. begann, lehrten andere Traditionen, wie der klassische Yoga, Buddhismus und viele andere esoterische Traditionen, dass die Welt der verkörperten Erfahrung Samsara ist, ein Kreislauf von Geburt und Tod. Samsara ist jedoch nicht nur Tod und Wiedergeburt im wörtlichen Sinne, es ist die Erfahrung, dass jeder Moment Teil eines Zyklus von Verlangen und temporären Freuden ist, ein endloser Durst, der nie gestillt werden kann. Die Lösung muss also sein, den Samsara irgendwie zu überwinden.

Im Zentrum dieser samsarischen Erfahrung steht der Körper. Ein menschlicher Körper schafft die Möglichkeit die Begrenzungen der Sterblichkeit zu transzendieren. Hierüber stimmen alle überein. Aber die nicht-tantrischen Traditionen sprechen über die Befreiung als Befreiung vom Körper. Im Tantra hingegen geht es um die Befreiung als Erfahrung im und mit dem Körper. Im Tantra sind Körper, Individuum, Verstand, Gedanken und Gefühle nichts, was überwunden werden müsste. Unser gesamtes Wesen soll als identisch mit dem höchsten Bewusstsein erfahren werden. Verkörperung ist nicht länger ein Problem, dass es zu lösen gilt. Geburt ist nicht länger eine Buße oder Strafe die abgeleistet werden muss, bis man schließlich entkommen kann. Verkörperung ist der Ausdruck des Wunsches des spielerischen allumfassenden Bewusstseins, sich in verkörperter Form zu erfahren.

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